Ein „Denkmodell“ als Erdbeben: Als die Landesregierung aus CDU und SPD 1969 ihre Vorstellungen zu einer Gebietsreform der Landkreise als „Denkmodell“ öffentlich machte, erschütterte das die Kommunalverwaltungen zwischen Bodensee und Main flächendeckend.
Aus 63 Landkreisen wollte das Modell durch Zusammenschlüsse per Gesetz nur noch 25 machen. Davon versprach man sich effizientere und professionellere und vor allem kostengünstigere Verwaltungen. Nach der Vergrößerung der Landkreise sollten zudem die Regierungspräsidien als Mittelinstanzen aufgelöst werden – was nie umgesetzt wurde.
Jetzt begann ein Hauen und Stechen auf allen politischen Ebenen, das über zwei Jahre lang anhalten sollte. Kein Kreis wollte unter die Räder kommen und das Rennen verlieren, jeder wollte seinen Kreissitz verteidigen. Da die Reform mit einem Gesetz zu beschließen war, war der Landtag in Stuttgart der Hauptschauplatz der Diskussionen. Hier versuchten die Kommunalvertreter aus dem ganzen Land, jede einzelne Stimme quer durch die Fraktionen auf ihre jeweilige Seite zu ziehen – neben Sachargumenten mit beinahe allen Mitteln. Die Zielmarke von 25 Landkreisen änderte sich im Lauf der Debatten zwar auf 35, aber für viele Kreise änderte das wenig an der Dramatik. „Iss und trink, solang Dir`s schmeckt, schon wieder ist ein Kreis verreckt“ soll in diesen Tagen ein geflügeltes Wort in der Landtagsgaststätte gewesen sein.
Eines der prominentesten und umstrittensten „Opfer“ der Reform war der Landkreis Nürtingen, der 1938 aus den Oberämtern Kirchheim und Nürtingen gebildet worden war. Obwohl zunächst mehrere Gutachten den beiden Kreisen Esslingen und Nürtingen bescheinigt hatten, mit ihrer Größe jeweils für sich existenzfähig zu sein, wurde 1971 vom Parlament die Zusammenlegung ins Auge gefasst und schließlich – gegen große Widerstände vor allem in Nürtingen – auch beschlossen. Sitz des Kreises sollte zunächst Nürtingen werden.
Der Kreissitz Esslingen setzte sich aber im Landtag in der dritten und letzten Lesung des Gesetzes durch, eine beim Staatsgerichtshof eingereichte Klage des Landkreises Nürtingen gegen das Reformgesetz blieb erfolglos.
Als der Nürtinger Landrat Dr. Ernst Schaude im Dezember 1972 verabschiedet wurde, schenkte ihm der Kreistag einen Farbfernseher, damit er „in aller Ruhe in die Röhre schauen kann“, so der Weilheimer Bürgermeister Georg Kandenwein.
Die Landkreise Esslingen und Nürtingen bildeten somit auf 1. Januar 1973 den neuen Landkreis Esslingen: die Gemeinde Grafenberg wurde an den vergrößerten Landkreis Reutlingen abgegeben, 1975 kamen bei der Bildung der Stadt Leinfelden-Echterdingen noch Musberg und Leinfelden vom Kreis Böblingen dazu, sodass der Landkreis 44 Städte und Gemeinden umfasst. Kommissarischer Landrat war zunächst der Esslinger Landrat Richard Schall, bevor sich bei der Wahl im Herbst 1973 Dr. Hans Peter Braun durchsetzte, der bis 2000 im Amt war.